Lernende Systeme (Hans-Joachim Niemann 1997)
Das Web zeigt: zusammen genommen kann unsere Intelligenz unglaublich viel größer sein als die eines Einzelnen, sogar als die eines genialen Menschen. Diese Möglichkeit dürfen wir uns nicht durch chaotisches Produzieren und Wiedervergessen zerstören lassen. Das Web ist nicht nur ein Mittel, Ideen zu produzieren, sondern es kann auch unklare Probleme in deutlich erkennbare Probleme verwandeln; es kann Lösungen finden, auf die kein Einzelner allein gekommen wäre.
Aber wie beim brainstorming gibt es zwei Nachteile:
(a) hier geäußerte unhaltbare und längst aufgegebene Gedanken können uns in Forschungsberichten oder anderweitig in unliebsamer Weise nachgetragen werden;
(b) manche/r wird seine klugen Ideen nicht einbringen wollen, weil ihr/sein Urheberrecht unkenntlich wird und gewissermaßen über viele Personen verteilt, also anonymisiert wird.
Ohne das gesamte Web auf Regeln einzuschwören, was nicht möglich ist, kann jeder selbst diesen Nachteilen abhelfen. Er/sie braucht nur seine innere Einstellung etwas neu zu justieren:
Zu (a): Es muss uns egal sein, dass es Leute gibt, die nicht an Problemlösungen interessiert sind. Es wird immer Störer geben, über die wir Problemlöser einfach hinweggehen sollten.
Zu (b) (frei nach Gustav Mahler): Es kommt nicht darauf an, wer etwas Gutes beiträgt, Hauptsache es wird beigetragen. Mein Ideal wäre, dass man es bei wichtigen Problemen aufgeben sollte, sich als Urheber einzubringen. Das mag lebensfremd klingen, aber es gibt im Web überraschenderweise viele Teilnehmer, die ohne Urheberstempelchen arbeiten und Informationen und Beiträge liefern, ohne dafür irgendeine Anerkennung zu erwarten. Es gibt offenbar Leute, die Spaß daran haben, dass sich etwas bewegt und dass es sich in die richtige Richtung bewegt.
Eine Schwierigkeit sehe ich ganz woanders: Wenn das Web mehr bringen soll als nur persönliche Anregung, wenn man tatsächlich einmal versuchen möchte, ein bisher unlösbares Problem zu lösen, dann ist außer Teilnahme möglichst vieler aus möglichst vielen Disziplinen und Lebensbereichen (Partizipation), außer freier Äußerung von Ideen und Alternativen (Konkurrenz), außer Auswahl der besseren Ideen (Kritik), auch noch das Bewahren des bisher Erreichten (Tradition) nötig.
(Nota bene: Solche Gebilde aus Partizipation, Konkurrenz, Kritik und Tradition heißen lernende Systeme. Funktionierende Beispiele für lernende Systeme, deren Intelligenz die genialer Einzelmenschen weit übersteigt, sind die Wissenschaft, die Demokratie, die Wirtschaft, aber auch ein Gesetzbuch, ein Fotoapparat, ein Auto...)
Am Bewahren durch Tradition mangelt es zur Zeit im Web. Es gibt viele interessante Diskussionen, aber alles verpufft im leeren Raum. Soweit ich an dergleichen teilnahm, gab es keine institutionalisierten Zusammenfassungen, die die Weiterentwicklung eines bestimmten Problems kurz nachzeichnen und die die jeweils bisher erreichten besten Lösungsversuche dokumentieren. Nur wenn das gegeben ist, können Gedanken in vernünftiger Weise wie ein Strickstrumpf von vielen gestrickt werden.
Kurzum: Statt Webregeln brauchen wir nur unsere innere Einstellung so zu ändern, wie die es taten, die hier und da im Web bereits an lernenden Systemen mitarbeiten (im einfachsten Fall z.B. an Literaturlisten). Was wir brauchen, ist eine besondere, qualifizierte Art der Moderation, die die Ergebnisse beurteilt und zusammenfasst, wobei Kürze, Richtigkeit, Neuheit und Verbesserungswert die Qualität bestimmen.
Es wäre schön, wenn einer, der sich hierzu berufen fühlt, in dieser Richtung einmal etwas bei der DFG anstoßen würde, z.B. "Qualifizierte Moderation eines lernenden Systems im Web zur Lösung des konkreten Problems xyz" (man braucht da ja immer eine Handvoll Fremdwörter, sonst gibt's kein Geld).
Dr. Hans-Joachim Niemann 1/1998; korr. 3/2000, 2/2009; Manuskript zurückgehend auf einen Vortrag in Biberach 30. Sept. 1997.
Siehe auch die neuen PS-Wikis zur Lösung politischer, sozialer oder moralischer Probleme mit Hilfe von PS-Regeln: dt. CONVERGENCE und engl. PROBLEMSOLVER
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