Was zog sie hier her, Dichter, Denker, Musiker, Maler? Friedrich Nietzsche, Marcel Proust, Rilke, Hermann Hesse, Adorno, Dürrenmatt, Klemperer, Bruno Walter, Segantini, Chagall... Gibt es so etwas wie einen philosophischen Ort? Nietzsche, der erste in dieser Reihe, der das Engadin für die Philosophie entdeckte, hat uns verraten, was ihn anzog. Es war die eigenartige Atmosphäre der großen Höhe, die klare Luft, die gleißende Sonne, der weite Blick, dieses Gefühl, das Leben ganz stark zu empfinden, jede Empfindung wie eine tiefe Wahrheit in sich zu fühlen. An der Spitze der Halbinsel Chasté (s. Bild) lesen wir auf einer steinernen Tafel sein Gedicht "O Mensch gib' Acht! Was spricht die tiefe
Mitternacht?"
Elf Zeilen, in denen acht Mal das Wort "tief" vorkommt. Die Mitternacht, der Traum, die Welt, das Weh, das Herzeleid, die Lust, die Ewigkeit, - alles ist tief, tief,
tief. Das hören wir gerne, besonders wir Deutschen. Aber, O Mensch, gib Acht: Was spricht das tiefe Gefühl? Spricht es die Wahrheit? - Schade wär's drum; denn der Wahrheit können wir auf
bessere Weise näherkommen mit den Werkzeugen des Wissenschaftlers. Was Nietzsche und andere hier fanden ist etwas viel Flüchtigeres, Selteneres, immer vom Aussterben Bedrohtes: Nicht Wahrheit, sondern Ideen sind's, bizarre, phantastische, wichtige, unwichtige, richtige, falsche. An uns ist es, eine Auswahl zu treffen.